In der westlichen Welt geistert ein romantisch verklärtes Bild des Stillens in ursprünglicheren Gesellschaften herum. Ein Bild von Harmonie, von einem genügsamen Leben im Einklang mit der Natur. Stillen in Natürlichkeit, ohne falsche Hilfsmittel, ohne störende Krankenhausroutine und ohne sozialen Druck zum Abstillen muss doch traumhaft sein. Doch in vielen Entwicklungsländern ist das Stillen nur der Traum im Alptraum: Eine Hilfe im Kampf ums nackte Überleben.
Laut WABA (World Alliance For Breastfeeding Action) könnten weltweit täglich 5.500 Leben gerettet werden, wenn nach der WHO-Empfehlung gestillt würde, nämlich sechs Monate ausschliesslich, dann bis zwei Jahre oder länger mit adäquater Zusatznahrung. In den industrialisierten Ländern können nicht gestillte Babys ja gut überleben, nicht so in Ländern mit grassierender Armut und desolater Wirtschaftslage. Auf den Philippinen beispielsweise sterben in einem Jahr 16.000 Kinder wegen Flaschenernährung. Für den Tod vieler Menschen am Anfang ihres Lebens sind verschiedene Faktoren verantwortlich: mangelnde Hygiene und medizinische Versorgung, die Arbeitsbedingungen für Arme und in zunehmendem Masse AIDS.
Wer wie lange stillt
In einer UNICEF-Statistik wurden wirtschaftliche und soziale Daten unter besonderer Berücksichtigung des Wohlergehens von Kindern publiziert. Daraus geht hervor, dass Babys unter sechs Monaten sehr oft nicht ausschliesslich gestillt werden. Die höchste Rate (52 %) erzielen Ostasien und Ozeanien, Schwarzafrika gesamt hingegen nur 28 %. Sieht man sich aber Afrika südlich der Sahara genauer an, erkennt man erhebliche Unterschiede. So stillen in Ruanda
84 %, in Uganda 63 % und in Burundi 62 % ihre Babys unter sechs Monaten ausschliesslich, der Rest bewegt sich zwischen 7 und 44 %. Auch in Asien ist dieser Wert sehr unterschiedlich hoch, weit oben steht Sri Lanka mit 84 %. Die grosse Bandbreite mag ihren Grund darin haben, dass in vielen Kulturen schon sehr früh zugefüttert wird.
In vielen Kulturen wird sehr früh zugefüttert
Bei den Stillenden mit einem Kind von 20 bis 23 Monaten sieht es sehr ermutigend aus. In den unterentwickelten Ländern sind es allgemein 63 %. In Schwarzafrika stillen noch 51 % ihre 20 bis 23 Monate alten Kinder, wobei Burkina Faso mit 87 % oben, Somalia mit 8 % unten rangiert. Ermutigend sind die hohen Prozentzahlen deshalb, weil in den Entwicklungsländern Stillen und das Überleben von Kindern einen engen Zusammenhang haben.
Hygiene, was ist das?
Die internationale humanitäre Hilfsorganisation MEDAIR berichtet von ihrer Klinik in einem vergessenen Winkel Afghanistans – einem Ort, „wo niemand sonst arbeiten möchte“. Jede Mutter, die zum Gebären in die Klinik kommt, hat schon einmal ein Baby während oder nach der Geburt verloren. Die Hauptursache besteht in der Unwissenheit der Menschen. Die meisten sind Analphabeten und haben nie etwas von Infektionen oder den Auswirkungen von schmutzigem Trinkwasser gehört. Deshalb bildet die Hilfsorganisation jetzt so genannte „Health Workers“ aus, die danach wieder in ihre Dörfer zurückkehren und dort sowohl aufklärende als auch praktische Krankenschwester- und Hebammendienste übernehmen.
Das Hygieneproblem in Verbindung mit Armut ist es auch, das viele Flaschenkinder sterben lässt. In einer armen Familie in Asien ist es praktisch unmöglich, eine Babyflasche hygienisch sauber zu halten. Es fehlt allein schon der Brennstoff, um sie auszukochen. Die Nahrung im richtigen Verhältnis anzurühren, ist dort eine höhere Kunst, denn viele können nicht lesen. Ausserdem ist Kunstnahrung einfach zu teuer für sie und wird folglich mit Wasser verdünnt. Oft wird auch irgendeine andere Nahrung gegeben. Viele Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, abkochen geht nicht, und schon hat der Säugling tödlichen Durchfall. Glücklicherweise stillen aber die meisten Mütter in Afrika ebenso wie viele in Asien. Da ist die Nahrung genau ausgewogen, hygienisch „verpackt“, steril und mit lebenden Abwehrzellen versehen! Doch die Stillbeziehung ist gerade für Mütter in Asien oft ein Ding der Unmöglichkeit, weil die Armut sie zwingt, kurz nach der Geburt wieder voll zu arbeiten.
Arbeiten fürs Essen
Mehr und mehr Frauen kehren wieder an ihren Arbeitsplatz zurück, wenn ihre Babys noch sehr klein sind. In Westeuropa ist es in dieser Situation möglich, weiter zu stillen. Es gibt Milchpumpen, Kühlschränke, der Arbeitgeber muss einen Raum, eine Liege und Arbeitszeit für die stillende Mutter zur Verfügung stellen. Doch in unterentwickelten Ländern sieht das ganz anders aus. Es fehlt nicht nur das, sondern oft gibt es überhaupt keine Rechte für die Arbeiterinnen. Dies bedeutet, dass die Frauen nicht einmal einen Mutterschaftsurlaub beanspruchen können. Schuld daran sind unter anderem Firmen, die im Ausland billige Arbeitskräfte suchen. Damit lösen sie Migrationen aus, und gerade Immigrantinnen, besonders sehr junge Frauen, sind es, die ohne sozialen Schutz arbeiten. Was sollen sie dagegen tun? Stillen ist zwar schön, aber genug zum Essen ist besser. Viel mehr als das Geld dafür verdienen diese Mütter nämlich nicht.
Die WABA erinnerte am internationalen Tag der Arbeit diesen Jahres an die „Arbeitsleistung“ einer stillenden Mutter: Sie produziert in den ersten zwei Lebensjahren ihres Kindes 400 Liter Muttermilch, die wohl kaum Eingang in die Statistiken der Nahrungsmittelproduktion finden. „Solange Muttermilch unsichtbar bleibt“, so steht in der Presseerklärung, „wird sie auch leicht übersehen.“
Stillen trotz AIDS?
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind bis fünf Jahre stirbt, ist über die Welt verteilt enorm unterschiedlich. Während in Deutschland, Österreich und der Schweiz durchschnittlich fünf von tausend lebend geborenen Kindern sterben, sind es in Sierra Leone 284. Auf den vordersten Rängen der Kindersterblichkeit in diesem zarten Alter stehen fast nur afrikanische Länder südlich der Sahara und Afghanistan auf Rang vier. So hohe Kindersterblichkeit, obwohl doch viel gestillt wird? Neben Krieg, Hunger und schlechter Hygiene geht diese hohe Rate in Afrika auf
das Konto der in rasantem Tempo um sich greifenden Krankheit AIDS. Es
wird geschätzt, dass weltweit rund 42 Millionen Menschen mit HIV infiziert sind, davon allein in Afrika südlich der Sahara über 27 Millionen. Übertragen wird der Virus dort hauptsächlich durch heterosexuellen Kontakt. Leider sind die Menschen vielerorts nicht aufgeklärt, wie eine Ansteckung vermieden werden kann. Oft wissen die Leute sogar nicht einmal, woran sie oder ihre Angehörigen leiden, und viele Kinder werden in kurzer Zeit zu Waisen. In Afrika ist es normal, dass eine Mutter ihr Kind stillt. Tut sie es nicht, wird das mit grossem Befremden zur Kenntnis genommen. Deshalb stillen auch HIV- infizierte Mütter ihre Babys – hierzulande undenkbar. Dort hingegen ist das ein Glück, denn trotz einer hohen Ansteckungsrate durch vaginale Geburt und Stillen bleibt dem Kind noch immer eine höhere Überlebenschance, wenn es gestillt wird!
Lucy Pärli