Warning: count(): Parameter must be an array or an object that implements Countable in /home/httpd/vhosts/lalecheleague.ch/elternzeitschrift.org/libraries/cms/application/cms.php on line 464 2015/03 Spielen und wachsen

Das Konzept vom «freien Spiel» findet seit vielen Jahren nicht nur in Montessori-Schulen Befürworter und Anhänger. Worum es dabei geht und wie Eltern und Kinder den Zugang dazu finden können, das erklärt Carmen Gamper.

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Bild: Carmen Gamper

Spielen ist nicht gleich Spielen. Was ist der Unterschied zwischen «freiem Spiel» und anderen Formen des Spielens?
Im Unterschied zu anderen Formen des Spielens wird freies Spiel ganz und gar vom Kind geleitet. Im freien Spiel darf das Kind entscheiden, wie, wann, wie lange und mit welchen Dingen es spielen möchte. Bei anderen Formen des Spielens wird nach einem Spielplan oder vorgesetzten Regeln gespielt, oder ein Erwachsener oder anderes Kind entscheidet und leitet, wie und was ein Kind spielen sollte.

Warum ist freies Spiel so wichtig für unsere Kleinen?
Freies Spiel ist ein universelles Grundbedürfnis von Kindern, das wir in allen Kulturen beobachten können. Es ist so wichtig, weil freies Spiel ein direkter Ausdruck der inneren Welt des Kindes ist. Im freien Spiel wechseln Kinder spontan und immerzu zwischen Fantasiespiel und Lernaktivitäten. Zum Beispiel werden Wäscheklammern erst zu einem Flugzeug zusammengebaut und im nächsten Moment nach Farbe sortiert und gezählt.

Freies Spiel erfüllt zwei wichtige Funktionen: Erstens verarbeitet das Kind Eindrücke seiner eigenen Erfahrungen. Für Kinder ist die Erwachsenenwelt oft verwirrend, sie können sich nicht erklären, warum Mutter angespannt ist, oder warum sie sich jetzt so beeilen müssen. Im selbstgeleiteten Spiel werden Erlebnisse, die innere Spannungen bereiten, «ausgespielt». Das Kind wiederholt das Erlebte im sicheren Rahmen, ganz so wie wir Erwachsene mit einem guten Freund über etwas sprechen, das uns innerlich beschäftigt.

Zweitens lernt ein Kind im freien Spiel genau das, was seinen inneren Entwicklungsstand am besten fördert. Im Kleinkindalter etwa gehören Sortier- und Zählspiele ganz natürlich dazu. Diese bilden auch das Grundwissen für Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Ausserdem erweitert ein Kind seine Sprachfähigkeiten im Spiel auf ganz natürliche Weise. Oft kann man Kleinkinder beobachten, wie sie zu sich selber sprechen, auch sogar wenn andere Kinder oder Erwachsene dabei sind. Keine Sorge, das ist ganz natürlich und gesund. Kleinkinder sind mit ihrem eigenen Wachstum und ihrer steilen Lernkurve so beschäftigt, dass sie berechtigterweise in einer so genannten egozentrischen Phase ihres Lebens sind. Sie spielen gern alleine oder Seite an Seite mit anderen Kindern und Erwachsenen, denn sie erleben ihre eigene Welt so stark, dass sie oft nicht wirklich zusammen spielen.

Der Übergang zwischen Fantasiewelten und der realen greifbaren Welt ist nahtlos und kann besonders bei Kindern im Vorschulalter beobachtet werden. Schulkinder würden weiterhin auf diese und andere natürliche Arten mit viel Spass und Effizienz lernen, wenn wir sie lassen würden, anstatt ihre natürlichen Lernprozesse durch Schulalltag zu regulieren. Viele «Freie Schulen» in Europa erlauben Kindern auch in Volks- und Mittelschule, spielend zu lernen. Besonders jene Schulen, die von Rebeca und Mauricio Wild, einem Erzieher-Ehepaar aus Ecuador, inspiriert sind, wissen um die Wichtigkeit des freien Spieles für eine optimale Entwicklung.

Verfolgt das freie Spiel nicht auch ganz klare (Lern-)Ziele? Wie frei ist es wirklich?
Freies Spiel hat seine eigenen natürlichen Lernziele, die unseren Erwachsenenaugen oft verschlossen sind. Kinder lernen ja nicht nur offensichtliche Dinge wie Laufen, Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern sie machen sich unsere ganze Kultur zu eigen; sie lernen, wie wir Erwachsenen die Welt sehen, wie wir miteinander umgehen, ob wir Angst haben oder dem Leben vertrauen, was wünschenswert ist oder Ablehnung verdient; all das und mehr wird durch das freie Spiel verinnerlicht. Egal wie Kinder spielen, wir können sicher sein, dass das freie Spiel wichtige Funktionen erfüllt, auch wenn wir nicht alle Lernziele immer genau nachvollziehen können.

Wie frei ist freies Spiel wirklich? Das hängt von uns Erwachsenen ab. Sind wir bereit ein Kind ohne Unterbrechungen spielen zu lassen und einen geeigneten Raum und Spielmaterialien zur Verfügung zu stellen? Können wir respektvoll dem Kind die Führung im Spiel übergeben, ohne es jedoch alleine zu lassen?

2015_03b_artikel.pngWieviel Aufwand bedeutet es, meinem Kleinkind einen adäquaten Spielraum zu bieten?
Das kommt darauf an in welcher Lebenssituation Sie sich befinden. Für ein Kleinkind ist es wichtig im Haus und draussen im Garten beziehungsweise in der Natur einen sichere, vorbereitete Umgebung für spontane Aktivitäten zu finden. Das Grundrezept ist: Beobachten Sie Ihr Kind und sehen Sie, was es spontan gerne macht und bereiten Sie eine Umgebung vor, in der das gefahrenlos möglich ist. Nehmen Sie alle süchtig machenden Aktivitäten aus der Umgebung, so wie Fernsehen, Computer und Zuckernaschereien.

Kleinkinder sind oft besonders aktiv und erforschen alles gerne mit Mund und Händen. Oft klettern, krabbeln und rennen sie auch gerne, lernen Dinge zu werfen oder auseinanderzunehmen. Der Boden sollte trocken und warm sein und in der Reichweite eines Kindes sollten nur Dinge sein, die es auch handhaben darf und an denen es interessiert ist.

Nicht nur Spielzeug ist wichtig so wie Puppen, Autos, Bälle und Holzbausteine, sondern auch grosse und kleine, bunte und vielförmige zählbare Dinge aus Natur und Alltag, so wie Tannenzapfen und Muscheln, Töpfe und Knöpfe. Auch Naturelemente wie Wasser und Sand eignen sich hervorragend für freies Spiel. Zum Beispiel ein Wassertisch mit Behältern und Trichtern in verschiedenen Grössen und buntes Wasser und natürlich eine Sandkiste mit allerlei Spielmaterialien.

Worauf sollten wir Eltern achten, wenn unsere Kinder spielen?
Wenn Kinder spielen, erschaffen sie ihre eigene Welt, die genauso wichtig für sie ist, wie unsere Erwachsenenwelt für uns. Seien wir deshalb darauf bedacht, nicht einfach grundlos ein spielendes Kind zu unterbrechen, denn vielleicht unterbrechen wir einen wichtigen Lernprozess. Es ist wichtig zu wissen, dass Kleinkinder einfach Freude an ihrer eigenen puren Aktivität haben. Sie brauchen kein bestimmtes Ziel oder Resultat zu erreichen, um einen effektive Lernerfahrung zu haben. Im Gegenteil, Kleinkinder lernen leichter, wenn wir sie nicht mit Dingen wie gewinnen/verlieren belasten und sie brauchen auch nicht unser Lob, um Freude mit ihren eigenen Erfahrungen zu haben. Wir können einfach ihre Freude am Tun mit einem Lächeln teilen.

Während freiem Spiel sind wir Erwachsenen zwar im Hintergrund, wir werden aber dennoch gebraucht. Ein aufmunterndes, zusicherndes Lächeln gibt Kindern emotionale Sicherheit. Wenn ein Kind auf ein Hindernis stösst, können wir abwarten und sehen ob, es selbst einen Ausweg findet oder ob wir gebraucht werden. Besonders wenn mehrere Kinder zusammen spielen, werden wir gebraucht, um Kindern zu helfen, eventuelle Konflikte zu lösen. Unser grösster Dienst als Erwachsene ist es, eine Atmosphäre von emotionaler und körperlicher Sicherheit zu gewährleisten.

Es gibt Eltern, die keine rechte Freude daran finden können, mit ihren kleinen Kindern zu spielen. Sie leiden oft unter schlechtem Gewissen – zu Recht?
Ach, ein schlechtes Gewissen hilft niemandem. Wir sollen ja nicht nur unsere Kinder mit Liebe akzeptieren, sondern auch uns selbst. Wenn wir Erwachsene keine Freude daran finden, mit Kindern zu spielen, dann ist das auch okay. Wir können uns fragen, warum wir nicht gern mit kleinen Kindern spielen und sehen, ob wir ähnliche Situationen schaffen können, in denen wir uns alle wohl fühlen. Kleinkinder sind auch oft zufrieden, wenn wir einfach Seite an Seite etwas anderes tun und uns manchmal anlächeln. Wie gesagt, in einer gut vorbereiteten Umgebung braucht ein Kleinkind nicht unbedingt einen Spielpartner, sondern eher einen Ansprechpartner, der emotionale Sicherheit gibt.

Anstatt zu spielen können wir auch Qualitätszeit durch andere Beschäftigungen schaffen, die dem Kind und dem Erwachsenem gefallen, zum Beispiel zusammen Kekse backen mit viel Zeit zum Teig kneten und Sterne ausstechen oder auf einen gemütlichen Waldspaziergang gehen mit viel Zeit, um links und rechts Entdeckungen zu machen.

Was, wenn ein Kind bislang eher «bespielt» oder beschäftigt wurde? Kann es auch später noch ans freie Spiel herangeführt werden? Kann ich ihm helfen, sich dafür zu öffnen?
Wenn Kinder es gewohnt sind, dauernd beschäftigt zu werden, können sie ihren angeborenen Spieltrieb verlieren oder er ist einfach unter all den anderen Beschäftigungen vergraben. Besonders wenn Kinder viel Fernsehen oder Computer spielen kann der Übergang schon eine Weile dauern. Auch nach ein paar Jahren in Kindergarten oder Volksschule ist es möglich, dass ein Kind «vergisst» wie es selbständig spielen kann. Da können wir Erwachsene schon mithelfen in der Übergangsphase, bis ein Kind wieder selbstgesteuert spielen und lernen kann.

Es hilft, eine vorbereitete Umgebung für freies Spiel zur Verfügung zu stellen und in der Umgebung auch mit dem Kind Zeit zu verbringen. Langeweile ist dann oft ein Ausdruck des inneren Schmerzes oder einem Verlorenheitsgefühl: «Ich weiss nicht, was ich mit mir anfangen soll.» Dieses Gefühl zu akzeptieren, voll und ganz zu fühlen und dann loszulassen und zu überwinden und wieder Freude an selbstgefundenen Aktivitäten zu finden, ist für Kinder die Grundlage für die Lebensfreude selbst – so wichtig ist der Eigenantrieb zum Spielen!

Ein Kind wird sich wieder zum Spielen öffnen, wenn ihm Zeit gelassen wird, wenn es sieht wie andere Kinder oder Erwachsenen mit Freude spielen und wenn es weiss, dass von ihm nichts weiteres verlangt wird, als glücklich zu sein und seine innere Freude und Energiequelle wiederzufinden.

Wir Erwachsenen helfen am besten indem wir unsere Erwartungen loslassen, den Leistungsdruck vom Kind nehmen und auch süchtig machende Aktivitäten, wie Computer und Fernsehen aus der Kinderumgebung nehmen. Wenn wir einem Kind erlauben, Kind zu sein und nach freiem Herzen sorglos zu spielen, wenn wir wirklich glauben, dass Freude am Leben wichtig ist für die Entwicklung von Gesundheit und Intelligenz, dann können wir lernen, Kinder und auch uns selbst wieder frei spielen zu lassen.

mit Carmen Gamper sprach Kristina Wrede

Heilende Tipps von Carmen Gamper:

  • Teilen Sie Kindern oft mit, dass Sie an ihre Fähigkeiten glauben: «Ich weiss, dass du alles schaffen kannst, wenn du nur willst!»
  • Unterbrechen Sie Ihre Kinder nicht, wenn sie konzentriert spielen. Spielen ist lernen. Lernprozesse geschehen, wenn sich Kinder auf eine Aktivität tief konzentrieren.
  • Erlauben Sie sich selbst auch manchmal zu spielen und einfach nichts zu tun. Die Entspannung, die folgt hilft besser zu verstehen, was Kinder von uns brauchen: Zeit, Geduld, liebevolle Aufmerksamkeit ...
  • Bereiten Sie für Kinder interessante, intelligente Lernmaterialien vor und helfen Sie ihnen mit denen sinnvoll und 
selbständig umzugehen.
  • Übernehmen Sie die Hauptverantwortung für die Erziehung Ihrer Kinder. Arbeiten Sie zusammen mit Lehrern am Wohl Ihrer Kinder. Falls Sie sehen, dass Ihr Kind oft unglücklich oder krank ist, überlegen Sie sich eigene kreative Lösungen, um das Leid zu mildern und zu heilen.

Carmen Gamper ist Beraterin und Referentin für autonomes Lernen und kindzentrierte Schulen. Sie stammt aus Südtirol und lebt seit zehn Jahren in San Francisco, USA, wo sie New Learning Culture Consulting gegründet hat.

Bis 2005 arbeitete Gamper als pädagogische Leitung und Lehrerin und an zwei Wild-orientierten Schulen in Österreich und Südtirol. Sie ist Magister des Lehramts für deutsche und englische Sprache und hat zahlreiche Kurse mit Claus-
Dieter Kaul, Rebeca und Mauricio Wild, Anne-Beate Huber und anderen besucht. Derzeit schreibt sie gerade ein praktisches Handbuch über kindzentrierte Erziehung, das bald online erhältlich ist, auf www.NewLearningCulture.com.