Warning: count(): Parameter must be an array or an object that implements Countable in /home/httpd/vhosts/lalecheleague.ch/elternzeitschrift.org/libraries/cms/application/cms.php on line 464 2009/06 GPS im Erziehungsdschungel
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Noch nie gab es so viele Erziehungs-ratgeber, Realityshows und Elternkurse wie heute. Glaubt man den Medien, ist Erziehung ganz schön schwierig: Hinter jeder Bodenwelle auf dem beschwerlichen Weg lauern Verwöhnungsfallen, Disziplin-losigkeit und Werteverfall.

Kompass oder Landkarte wären gefragt, um den Weg durch den Dschungel gut gemeinter Rat-schläge und Expertenmeinungen zu finden.

„Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer.“ Kein Zitat des autoritätsverklärenden Bernhard Bueb („Lob der Disziplin“) sondern vom griechischen Philosophen Sokrates, der schon 400 Jahre vor Christi Geburt einen Werteverfall bei der Jugend ausmachte. Ein Blick auf die Geschichte der Pädagogik zeigt, dass Legionen von (selbst)ernannten ExpertInnen seither vergeblich nach einem Patentrezept für Erziehung suchen.

Vom Mängelwesen zum kompetenten Kind

Seit Jahrhunderten gilt es, dem „gefühlten” Werteverfall der Jugend durch Erziehung gegenzusteuern. Der klassische Erziehungsbegriff ist folgerichtig ein sehr aktiver: „Erziehen“ kommt vom althochdeutschen „irziohan“, was soviel wie „herausziehen“ bedeutet.

Durch gezieltes Einwirken der Eltern auf das Kind soll dessen Verhalten in allgemein akzeptierte Bahnen gelenkt werden. Wie Erziehung gesehen wird, spiegelt immer auch das gesellschaftliche Bild des Kindes wieder: In diesem Fall das typisch christlich-abendländische des unreifen, manipulierbaren Mängelwesens. Diese eher negative Sicht der Natur des Kindes änderte sich erst mit Beginn der Aufklärung. Für den Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau sind Kinder von Natur aus gut und sozial. Nichtsdestotrotz ist es auch laut Rousseau Aufgabe von Erziehern, den Willen des Kindes nach ihrem eigenen zu formen – die Erzogenen sollten es bloss nicht merken.

Bis man dem Kind seine eigene Persönlichkeit und Würde zugestand, sollten noch mehr als hundert Jahre vergehen. Der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak wurde einer der ersten Verfechter für das Recht des Kindes auf Achtung. Für ihn war die Kindheit seiner Zeit eine Phase der Rechtlosigkeit und Unterdrückung. Dem setzte er die Pflicht von Erwachsenen, Kindern Respekt entgegenzubringen, entgegen: „Respekt vor dem Eigentum des Kindes, Respekt vor seiner Wissbegierde und Respekt vor seinen Misserfolgen und Tränen.“

WirbelWind 2009/06

Das 20. Jahrhundert: (anti)autoritäre Erziehung
Korczaks wurde 1942 im Konzentrationslager Treblinka ermordet, weil er sich weigerte, die ihm anvertrauten Kinder im Stich zu lassen. Kein Wunder, standen seine Überzeugungen denen des aufkommenden Nationalsozialismus doch konträr entgegen. Auch dort war Erziehung ein zentrales Thema, allerdings mit einem völlig entgegen-gesetzten Ziel: Kinder sollten zu gefügigen Soldaten erzogen werden.

Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern war nun geprägt von einem ständigen Machtkampf. „Abhärten“ war die Devise von „Erziehungs-experten“ wie der Ärztin Johanna Haarer. Diese Angst vor dem Verwöhnen zieht sich als Leitthema durch die Erziehungsmaxime des 20. Jahrhunderts. Haarers insgesamt mehr als 1,2 Millionen mal verkauftes Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" wurde – wenn auch mit angepasstem Titel („Die Mutter und ihr erstes Kind“) – bis 1987 (!) verlegt. Erst im Zuge der 1968er-Bewegung und der Proteste gegen den Vietnamkrieg schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Hinter diesem Begriff „antiautoritär“ verbergen sich entgegen landläufiger Meinung allerdings eine ganze Reihe verschiedener Erziehungstheorien, die bis auf Ablehnung des autoritären Erziehungsstils oft wenig gemeinsam haben. Während Strömungen wie die Summerhill-Reformpädagogik von Alexander Sutherland Neill nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung kindgerechterer Erziehungsphilosophien haben, erwies sich das klassische „Laissez-Faire“, das jeglichen elterlichen Einfluss auf die Selbstentfaltung des Kindes ablehnt, als Einbahnstrasse. Kinder brauchen, wie sich zeigte, zwar keine Führer, aber zumindest „Leitplanken“ in ihrer Entwicklung; jemand, der ihnen Orientierung bietet und an dessen Vorbild sie wachsen können.

Nach einem Jahrhundert von Versuch und Irrtum stehen Eltern heute vor einem Dilemma. Viele überlieferte Erziehungsstrategien haben sich als nicht besonders kindgerecht erwiesen. Ohne Rückhalt bei Traditionen sind sie bei der Suche nach eigenen Werten ganz auf ihre eigenen Überzeugungen gestellt.

Erziehungsziele im Wandel

Kompasse und Landkarten helfen kaum weiter, wenn man das Ziel, zu dem sie führen sollen, nicht kennt. Jahrhundertelang bedeutete Erziehen vor allem die Vermittlung von religiösen und kulturellen Normen. Das Kind sollte so zu einem vollwertigen – und angepassten – Mitglied der Gemeinschaft gemacht werden. Noch vor 50 Jahren waren die zu vermittelnden Werte klar definiert: Pünktlichkeit, Sparsamkeit, Ordnung, Fleiss, Bescheidenheit; das machte Erziehung leicht! Unsere heutigen Erziehungsziele sind schwieriger zu fassen: Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein sind jene Eigenschaften, die Eltern in einer Umfrage aus dem Jahr 2009 am häufigsten als Ziel ihrer Erziehung nennen. Einen Grundkonsens über zu vermittelnde Werte gibt es nicht, wenn überhaupt, ist unser Wunschbild das des mündigen, selbstständigen Individuums. Andere Kulturen setzen andere Prioritäten: Bei den Yogon in Südamerika gelten, wie bei vielen traditionellen Kulturen, Gastfreundschaft und Respekt vor Älteren als wichtigste Erziehungsziele, im Buddhismus zählen vor allem Mitgefühl und Demut. In unserer Gesellschaft scheint man mit Selbstbewusstsein und Mündigkeit tatsächlich gut über die Runden zu kommen: Nach Untersuchungen der Verhaltensbiologin Gabriele Haug-Schnabel sind es jene Eigenschaften, die am besten vor Abhängigkeit und Abrutschen in Gewalt schützen. So weit, so gut. Doch wie erzieht man sein Kind zur Selbstständigkeit?

Bedürfnisse vs. Erziehung

Hat man sein Erziehungsziel endlich definiert, beginnt ein sich schlängelnder Weg. Denn da ist ja noch der Konterpart in der Erziehung, der seine eigene Agenda mitbringt. Kinder kommen mit evolutionär entstanden, angeborenen „Erwartungen“ auf die Welt. Eine stabile Bindung, Geborgenheit und Sicherheit sind ihre primären Bedürfnisse – ziemlich konträr zum Bild des selbstgenügsamen Individuums. Tat-sächlich sind „alleine schlafen“ und „sich selbst beschäftigen“ Massstäbe, an denen allzu oft die Erziehungsleistung von Eltern gemessen wird. Entgegen landläufiger Meinung ist Selbstständigkeit allerdings nichts, was Kindern beigebracht werden kann. Durch Schlafprogramme & Co. wird zwar das Verhalten in erwünschte Bahnen gelenkt und Kinder erscheinen nach aussen hin selbstständiger. Oft bewirken sie aber das genaue Gegenteil, denn echte Unabhängigkeit braucht emotionale Sicherheit. Sicher gebundene Kinder werden von alleine selbstständig, ganz ohne Training.

Eltern-Sein
Im Englischen existiert kein Wort für „Erziehung“ in unserem Sinn; einzig das neutralere „Parenting“ kommt dem deutschen Erziehungsbegriff nahe. Dieses wertneutralere „Eltern-Sein“ im Gegensatz zum autoritär geprägten „Er-Ziehen“ setzt sich auch in mordernen Pädagogikkonzepten immer mehr durch. Ein Beispiel dafür ist die Philosophie des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul. Kinder sind für ihn Erwachsenen zwar nicht gleichgestellt, aber „gleichwertig“. Ihre Integrität zu wahren ist die wichtigste Aufgabe von Eltern. Kinder wollen mit ihren Eltern kooperieren – wenn Eltern sensibel genug auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und deren Grenzen respektieren, werden diese lernen, das ebenfalls zu tun. Eltern setzen lediglich die Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung.

Erziehen als Weg

Kinder kleckern immer noch beim Essen und ärgern nach wie vor ihre Lehrer. Sokrates hatte leicht reden: Er hatte – wie Bernhard Bueb – keine Kinder. Rousseau, immer noch als Urvater der modernen Pädagogik verklärt, schob seine eigenen Kinder ins Waisenhaus ab, und sogar Maria Montessori gab ihren Sohn Mario zu Pflegeeltern. Fernab der schönen Theorie bleibt Erziehung eine Herausforderung. Aber allen Unkenrufen zum Trotz scheint sich doch etwas getan zu haben in den letzten 2000 Jahren: Eltern sind heute bereiter als je zuvor, tradierte Werte zu überdenken und sich kritisch mit dem Thema Erziehung auseinander zu setzen. Supernannys und Regale voll Ratgeberliteratur sind ein Ausdruck davon – der andere sind immer mehr Eltern, die bereit sind, ihre Kinder ernst zu nehmen und ihnen Respekt entgegenzubringen.

Laut „Generationen-Barometer 2009“ sehen Eltern die Situation heute durchaus positiver als die Gesellschaft allgemein. Kinder stehen mehr im Mittelpunkt denn je und in den Familien herrscht ein liebevoller, respektvoller Umgang. Kindererziehung ist zwar anstrengend, wird aber auch als Bereicherung gesehen. Vielleicht existiert tatsächlich kein Patentrezept für Erziehung und Janusz Korczak hatte recht mit dem „Habe Mut zu dir selbst und suche deinen eigenen Weg“.

In unserer von Perfektionismus geprägten Welt braucht es tatsächlich eine gehörige Portion Mut, sein ganz persönliches Ziel und seinen eigenen Weg aus der Vielzahl der Möglichkeiten auszuwählen. Aber Wege ins Unbekannte sind immer auch Chancen, Neues und Unerwartetes zu entdecken. Als Kompass bleibt die eigene Intuition. Und wer achtsam bleibt und offen für seine Kinder, wird möglicherweise entdecken, dass Begleitung viel bereichernder sein kann als Belehrung.

Nicole Ritsch